"Oppa Pritschikowski aus dem Ruhrrevier Kennt die Schalker Knappen schon seit 1904"
Irgendwann im Herbst 1903
Schweigend sehen sich die Jungen das Spiel an. Schweigend, wie die anderen Zuschauer. Abgesehen vom Torjubel oder mal einem gelegentlichen „Ah“ oder „Oh“ bei besonders gelungenen Spielzügen oder vergebenen Tormöglichkeiten sind Zuschauerlaute nämlich beim Fussball verpönt. So wie man das hundert Jahre später noch immer von Spielen im Amateurbereich kennen wird. Keine „La Ola“, keine „Attacke“, kein Pfeifen und kein Trommeln.
Die „Sechsundneunziger“ haben eine Mannschaft aus Holland zu Gast. Ein internationaler Gegner also und damit ein großer Tag für den Gelsenkirchener Ortsteil Schalke. Von überall aus den umliegenden Städten sind die Leute herbeigeströmt. Im Nachbarland wird schon seit ein paar Jahren ein Meister ermittelt, im Deutschen Reich dagegen wurde erst diesen Sommer zum ersten Mal eine Meisterschaft ausgespielt. Die Holländer spielen auch schon einen ganz gepflegten Ball, die „Sechsundneunziger“ haben große Mühe dagegen zu halten.
Es dauert keine zehn Minuten und die Holländer machen das erste Tor. Bewurndernd blickt Willy dem Torschützen in seinem gelben Hemd und seiner roten Hose nach, wie der, von seinen Mitspielern beglückwünscht, in die eigene Hälfte zurückläuft.
Links neben Willy steht Viktor, rechts von ihm Josef. Hinter ihnen Heinrich und noch ein anderer Josef.
„Kerl, Kerl, die kriegen heut vielleicht sogar zehn Stück.“, meint Viktor
„Datt kann gut sein.“, entgegnet Willy, nimmt dabei seine Schiebermütze ab und kratzt sich an der Stirn.
„Aber gegen uns hätten die Käsköppe keine Schangse.“
„Du wieder.“, lacht Viktor und die Anderen fallen in sein Lachen ein.
„Ein eigener Verein. Pah.“, ist Heinrich‘s Kommentar.
„Ja, warum denn nich?“ Wenn Willy sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann beharrte er auch auf seiner Meinung. Das war immer schon so.
„Datt krieg’n wa doch ga‘ nich‘ alle bezahlt, hörma.“
„Ausserdem sinnwa alle no‘ nich‘ volljährig.“
Wieder, wie schon so oft, entbrennt eine große Debatte über dieses Thema. Aber Willy hört den Anderen schon gar nicht mehr zu, sondern konzentriert sich wieder auf das Spiel. Gerade haben die Holländer das zweite Tor gemacht und Willy versinkt in seine Gedanken.
Aus dem notdürftig mit Draht umspannten, holprigen Sportplatz der „Sechsundneunziger“ wird für ihn der Crystal Palace in London. Aus den paar Hundert Zuschauern werden Hunderttausend. So wie er das vor etwa zwei Jahren einmal auf einer Fotografie in einer Zeitung gesehen hat. Diese Fotografie hat er sich zu Hause aufbewahrt. Hunderttausend begeisterte Menschen bei einem Fussballspiel. Beim englischen Pokalfinale.
„Wie Ihr wollt.“, sagt Willy mit fester Stimme. „Ihr könnt mitmachen, oder nich‘. Wir gründen einen Verein. Und datt wird nich‘ sonne Kirmestruppe wie die da.“
Verächtlich deutet er auf den Torhüter der „Sechsundneunziger“, der gerade zum dritten Mal den Ball aus dem Netz holen muß.
„Datt wird etwas noch nie Dagewesenes. Etwas Beispielloses. Der geilste Club der Welt.“
Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT - FC SCHALKE 04
„Willy, aufstehen. Es ist halb vier. Wir müssen zur Arbeit. Höchste Zeit“
Halb vier Uhr morgens. Ganz sicher nicht die richtige Zeit, um sich vergnügt aus dem Bett zu schälen. In Momenten wie diesen haßt Willy seinen Vater und dessen tief dröhnenden Bass. Von dem Gepolter an der Tür und dieser gewaltigen Stimme ist jetzt sicher wieder die ganze Herzogstraße wach geworden.
„Willy!“, dröhnt es noch einmal von draussen.
„Ja, ist ja schon gut.“, gähnt der noch Verschlafene zurück.
Er hatte so schön geträumt. Schalke, sein Schalke, hatte irgendeinen Pokal geholt. Es war nicht die Viktoria gewesen, um die im Sommer der VfB Leipzig und der DFC Prag gerungen hatten, sondern sah mehr so aus wie eine Blumenvase. Die ganze Kaiserstraße war voller Menschen gewesen. Glückliche Menschen. Überglückliche Menschen. Der Kettwiesel hatte dauernd auf seine riesengroße Pauke gehauen. Bumm Bumm Bumm Bumm. Das es eine helle Freude war. Einmal auch hatte er auf seinem Horn ein Signal aus dem amerikanischen Bürgerkrieg geblasen und ganz laut "Attacke geschrien. Und alle hatten das Lied gesungen, daß der Kettwiesel sonst immer zu singen pflegt. Auch so ein amerikanisches, irgendwas mit einer „Klementine“.
Manche sagen auch „Amerikaner“ für den Kettwiesel. Weil der fünfzehn Jahre in Amerika gelebt hat und immer noch jeden Tag wie so ein Trapper durch die Straßen läuft. Ein richtiges Original mit langen schlohweißen Haaren und einem buschigen weißen Bart. Sommer wie Winter trägt er seine Fellmütze und seine Lederjacke mit den Fransen. Um den Hals trägt er ein Amulett, von dem er immer behauptet, daß ihm der echte Häuptling Geronimo das geschenkt habe. Und dann lacht er immer aus vollem Hals.
Willy und seine Mannschaftskameraden waren auf einem Pferdewagen gestanden. Alle mit einer Schärpe dekoriert und sein Vater hatte ihm zur Feier des Tages eine richtig dicke Zigarre entgegen gehalten. Die mußte wahnsinnig teuer gewesen sein.
„Hier mein Jung, hast Dir verdient. Bin stolz auf Dich.“
Dann hatte ihm der Vater die Zigarre angezündet, Willy hatte gezogen und der Vater hatte ihm kräftig auf die Schulter gehauen.
„Na schmeckt’s?“
Willy hatte sich verschluckt und ihm war der Pokal aus der Hand geglitten. Der war dann mit lautem Gepolter zuerst auf den Boden des Wagens und dann über die Rampe auf die Straße gefallen. Der schöne Pokal demoliert. Das hatte natürlich auch wieder nur ihm passieren können. Aber zum Glück war es ja nur ein Traum.
In Wahrheit ist das Gepolter natürlich die Faust seines Vaters an der Tür zu Willy’s Zimmer gewesen. Das Gepolter, das ihn so unsanft geweckt hat.
Willy macht sich zurecht und begleitet seinen Vater zur Arbeit. Bis zum Sommer war er noch zur Schule gegangen. Aber auch da hatte er nicht lange schlafen können, weil er sich ein bisschen Geld mit Brötchen austragen verdient hatte. Bei Bäcker Prczykowsky. Er hatte sich das Geld zusammensparen wollen für einen Lederball. Elf Reichsmark sollte der kosten. Eine Unsumme für den jungen Willy. Aber etwa sieben Reichsmark hatte er schon beisammen gehabt. Dann war im Sommer die Nichte von Bäcker Prczykowsky zu Besuch gekommen. Ein hübsches zwölfjähriges Mädchen, das eigentlich irgendwo in der Nähe von Lüdenscheid zu Hause war. Mit ihren langen blonden Locken, ihren dunkelbraunen Augen und ihrer netten kleinen Stubsnase hatte die kleine Giulietta den Willy verzaubert und mit einem Mal war ihm der Ball egal gewesen. Und sein Sparstrumpf hatte ein Loch bekommen. Zweimal waren sie mit dem Fahrrad zur Cranger Kirmes gefahren und zum Abschied hatte er ihr eine einigermassen günstige, weil schon gebrauchte, Ausgabe von „Der Hund Von Baskerville“ geschenkt. Die Geschichte hatten sie in Zeitungsausschnitten gesammelt im Haus des Bäckermeisters entdeckt und sich eines Nachts, als sie beide von zu Hause ausgebüxt waren, im Haus Goor gegenseitig vorgelesen.
Jetzt hat er schon lange Wochen nichts mehr von Giulietta gehört und der kleine Taddel, Tadeusz, der achtjährige Sohn des Bäckermeisters, hüllt sich in Schweigen, wenn Willy nach ihr fragt. Er möchte immer mit Willy und den Anderen mitpöhlen, aber sie lassen ihn nicht, weil er ihnen viel zu jung ist. Mit seinem Schweigen revanchiert er sich dafür bei Willy.
„Ich bin doch Euer größter Fan.“, sagt er immer, der kleine Taddel Prczykowsky.
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Sie waren geflogen, sie waren wirklich richtig geflogen. Der Mensch konnte fliegen. Unfassbar.
Seit ein paar Tagen spricht man in ganz Schalke, in ganz Gelsenkirchen und vermutlich auf der ganzen weiten Welt von nichts anderem. Irgendwo in Amerika hatten zwei Brüder eine Maschine gebaut, mit der sie fliegen konnten. Fliegen. In der Luft.
“Tausend Meter weit.” ruft Taddel und läuft mit ausgebreiteten Armen durchs Wohnzimmer der Prczykowskys.
“Ach, Quatsch! Doch keine tausend Meter.”, entgegnet Willy und tippt sich dabei an die Stirm.
“Hab ich gehört.”, beharrt der Kleine.
“So’n Kappes. Datt waren irgendwatt um die dreissich oder fünfundreissich.”
“Streitet Euch nich Kinners. Wir ham schließlich Weihnachten.”, macht Taddel’s Mutter den wohlwissentlich vergeblichen Versuch, für Ruhe zu sorgen. Mit ihrem untrüglichen Mutterinstinkt hat sie schon längst begriffen, daß der Gies-Junge die fast schon abgöttische Zuneigung ihres Sohnes nicht erwidert.
Willy bereut es , daß er mit seiner Mutter zu den Prczykowskys mitgegangen ist. Aber er hat gehofft, etwas Neues von Giulietta zu erfahren. Wenn nicht jetzt an Weihnachten, wann dann?
"Freut mich, daß es Deinem Bruder wieder besser geht.", sagt Willy's Mutter zu Frau Prczykowsky, die gerade Kaffee eingießt.
"Ja, er hat sich wohl jetzt mit seinem Schicksal abgefunden. Hat mir meine Schwägerin geschrieben. Iss aber auch schlimm mit ohne die Beine. Man kann sich das gar nich vorstellen. Dabei hat er immer so gerne getanzt." Die Bäckersfrau fügt noch irgendetwas auf Polnisch hinzu, vermutlich ein Gebet, und bekreuzigt sich dabei.
Im April waren 30 Bergleute auf der Zeche "Königin Louise" in Oberschlesien tödlich verunglückt. Der Bruder der Bäckersfrau hatte überlebt, aber seine beiden Beine waren nicht mehr zu retten gewesen.
Willy schaudert bei dem Gedanken. Keine Beine mehr. Kein Fussball. Alles andere wäre schlimm genug. Einen Arm zu verlieren oder eine Narbe, wie sie beim Kettwiesel teilweise vom Bart überdeckt wird. Aber keine Beine mehr...
"Ich geh zur Goorwiese.", sagt Willy und erhebt sich vom Boden, auf dem er die ganze Zeit gesessen hat.
"Nimm den Kleinen mit." sagt seine Mutter.
"Au, ja! Pöhlen geh'n!", ruft der Kleine begeistert und läuft zum Kleiderhaken, um seine Jacke zu holen. Unterwegs stolpert er dabei über ein Kinderspielzeug. Einen Kreisel. Aber er rappelt sich gleich wieder hoch.
Willy zeigt sich weniger begeistert. Wie kommt er dazu, immer den Kleinen an der Backe zu haben. Ist ja schließlich noch nicht mal sein kleiner Bruder. Und selbst wenn...
"Muß datt sein?".
"Komm, sei lieb.", sagt seine Mutter mit ihrem Augenaufschlag, der auch das Vaterherz schon bald zwei Jahrzehnte immer wieder zum Schmelzen bringt. "Es ist...
"...Weihnachten. Ich weiß. Wir können wahrscheinlich sowieso nicht pöhlen. Alles viel zu nass."
Vor drei, vier Tagen hatte es geschneit und gestern und am Vormittag geregnet. Die Goorwiese konnte sogar vereist sein. Mit dem zusammengenähten Stoffballen, den sie zum Pöhlen verwenden und der in kürzester Zeit feucht und klamm wird, ist das auf die Dauer jedenfalls nicht wirklich ein Vergnügen. Und einen Lederball hatte ihm das Christkind gestern, am Heiligen Abend, nicht gebracht. Den Anderen sehr wahrscheinlich auch nicht.
Der kleine Taddel ist inzwischen schon längst nach draußen gelaufen. Willy geht ihm gemächlich nach, während er seine Jacke anzieht. Er hat es gar nicht mehr so eilig, zur Goorwiese zu kommen. Die Bäckersfrau gibt ihm an der Gartentür noch Schal und Mütze für den Kleinen mit.
"Tu den Schal um und setz die Mütze auf.", ruft sie ihrem Sohn hinterher. Kann sich aber gar nicht sicher sein, ob der sie überhaupt verstanden hat.
Willy sagt ihm noch einmal sinngemäß das selbe, als er ihn nach ein paar Metern eingeholt hat. Aber der Kleine legt gar keinen Wert auf die Sachen.
"Da nimm, Du wirst sonst krank.", sagt Willy gereizt und mit Nachdruck.
"Ich werd' nich krank.", entgegnet der Kleine. Nimmt aber die Sachen, um es sich mit seinem Idol nicht völlig zu verderben. Seinen Eltern gegenüber hätte er sich jetzt vermutlich beharrlich geweigert. Die sind beide immer schon Wachs in seinen Händen gewesen. Aber Willy bringt es fertig und trägt ihn eigenhändig standepede wieder zum Elternhaus zurück. Es wäre nicht das erste Mal. Also setzt er sich die Mütze auf und bindet sich den Schal zu. Dabei verzieht er angewidert das Gesicht.
"Ich find gelb häßlich. Außerdem kratzt datt Dingen."
"Wieso? Gelb ist doch ne schöne Farbe."
"Ich find blau viel schöner."
"Die Holländer haben neulich auch in Gelb gespielt.", erzählt Willy. "Gelbe Blusen und Rote Hosen. Sah richtig schick aus. Sei froh, daß Du einen so schönen Schal hast."
"Blau ist trotdem schöner."
"Naja, wenn Du meinst." Willy hält es für sinnlos, mit dem Kleinen über Farben zu diskutieren.
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"... dwelt a miner, fortyniner, and his daughter Clementine..."
Der Kettwiesel ist wieder am Singen. Willy hört die scheppernde Stimme schon draußen auf der Gewerkenstraße, als er sich dem "Haus Der Vier Jahreszeiten" nähert. Und schmunzelt. Er freut sich, den Kettwiesel zu sehen.
"Oh my Darling, oh my Darling, oh my Darling Clementine..."
Willy öffnet die Tür zur Gaststube. Die ist festlich geschmückt und gut besucht. In der hintersten Ecke steht noch der Weihnachtsbaum. Überall hängen Girlanden und Luftschlangen. Der Kettwiesel lehnt an der Theke und ist offenbar wieder einmal die selbsternannte Attraktion des Abends.
"Willy, mein Junge", ruft der Kettwiesel freudig aus und geht schwankend auf ihn zu.
"Freu mich, Dich zu sehen. Vaddern sitzt da hinten mit dem Hilgert und mit mein Chef."
Der Kettwiesel legt freundschaftlich den Arm um Willy's Schulter und deutet auf einen Tisch in einer Ecke der Gaststube. Dort sitzt Willy's Vater mit ein paar Kollegen von Consol. Der Bäckermeister Prczykowsky, bei dem der Kettwiesel tagsüber in der Backstube arbeitet, sitzt dort ebenfalls.
"Und watt machst Du hier?", wundert sich Willy, weil er den Kettwiesel eigentlich in einer anderen Gaststube, bei Dittmar in der Herzogstraße, vermutet hat. Dort hilft der Kettwiesel nämlich gewöhnlich Abends aus.
"Ach.", winkt der Kettwiesel ab. "Die sollen sich ihre Kegel heute selber aufstellen. Da sind heute die Schnösel vonne Sechsundneunziger da. Mit denen krieg ich nur wieder Kabbelei. Ich kann datt Pack nich leiden. Ich freu mich immer, wenn die den Arsch voll kriegen. So wie gegen die Holländer. Warste da?"
Willy nickt. "Hab ich Dir doch schon vor Wochen erzählt."
"Ich konnt leider nich. Hätt ich gerne gesehen. Wir sind Schalker und Ihr nicht. Hähä. Rin datt Ding."
Der Kettwiesel macht eine Drehung und stößt dabei versehentlich mit einem Mann zusammen, der gerade seinen Mantel vom Garderobenhaken nimmt und sich den Hut aufsetzt. Eine stattliche Erscheinung mit einem noch stattlicheren Schnurrbart. Den hat er nämlich bis hinter die Ohren gedreht.
"Oh. Pardon, Majestät." Der Kettwiesel nimmt seine Pelzkappe ab und macht einen höflichen Diener bis fast zum Boden. Dann grinst er den Anderen frech an. "Bisse schon am Gehen, August?"
"Jau! Datt hält ja hier kein Mensch aus mitt deine Singerei." entgegnet der Angesprochene mit einem verschmitzten Lächeln.
"Aber ich sing doch ga nich mehr. Außerdem is heut Silvester. Jetzt pöhlen wir grad n' bissken."
"Fussball! Datt au noch. Mei'm Jungen würd ich die Hammelbeine langziehen, wenn der mir damit ankäm. Die Hammelbeine."
"Wäret Dir vielleicht lieber, wenn er boxen tut?"
"Ach! Red doch hier nich von ungelegten Eiern." Der Herr macht eine wegwerfende Handbewegung nimmt die Türklinke und der Kettwiesel prostet ihm mit seinem Bierglas zu.
"Wiederseheh'n , August. Grüß mir Deine Karoline und die Kinder recht schön. Sind datt nu vier oder schon fünf? Ach, egal." Der Kettwiesel macht die selbe Handbewegung und wendet sich zur Theke.
"Auf Wiedersehen, Herr Szepan.", schließt Willy sich dem Gruß an, der die Unterhaltung zwischen den Beiden amüsiert beobachtet hat.
August Szepan stülpt sich den Kragen hoch, tippt sich an den Hut und verläßt die Gaststube. Der Kettwiesel nimmt einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, dann fällt ihm anscheinend etwas ein. Er bricht das Trinken ab und setzt das Glas auf die Theke.
"Hmm! Mensch, Willy, ich hab Dir ja watt mitgebracht. Ich habs Deinem Vadder gegeben, weil ich ja nicht wußte, datt Du heute kommst. Geh ma zu ihm hin."
Willy wundert sich. Was, um alles in der Welt, kann ihm der Kettwiesel mitgebracht haben. Er geht zum Tisch seines Vaters, begrüßt ihn und seine Kollegen und natürlich auch den Bäckermeister und der Vater gibt ihm das Paket vom Kettwiesel. Etwas Rundes. Naja, ganz so rund wieder nicht. Während er es aufschnürt, blickt er irritiert zum Kettwiesel und geht zurück Richtung Theke. Dort angekommen, entpuppt sich der Inhalt tatsächlich als das, was Willy schon die ganze Zeit vermutet hat.
Es ist ein Ball - ein Lederball.
Jedenfalls war es das mal. Seine besseren Tage scheinen vorbei zu sein. Aber mit ein bisschen Geduld und Spucke...
"Die vonner Urania wollten ihn wegtun. Da habbich gesacht, gebt ihn mir. Den brauch ich für mein' Kumpel. Vielleicht kann man ihn ja wieder..."
"Der Heinrich kriegt datt schon hin." Willy ist immer noch ganz verdattert. Damit hat er im Leben nicht gerechnet.
"Weiß gar nich, watt ich sagen soll. Du schenkst mir immer so tolle Sachen. Damals die Fotografie vom Crystal Palace und jetzt..."
"Schon gut, mein Junge. Dein Vadder hat mir damals auch geholfen. Wenne Deinen Verein endlich aufgemacht hast und Ihr spielt irgendwann mal gegen Sheffield oder so, dann kannste ja an mich denken."
"Datt kann aber noch dauern." lacht Willy, dessen Augen gleichzeitig feucht schimmern. "Im Moment wär ich schon glücklich, wenn wir bald gegen die Sechsundneunziger spielen würden. Und der Duisburger Spielverein wäre sowieso ein Traum. Aber ich muß den Heinrich, den Viktor und die Andern erst noch überreden."
"Wenn ich nich schon so 'n alter Sack wär, wär ich ja sofort dabei. Aber ich mit meine kaputten Knochen..."
Im September 1886 hatte ein großes Unglück auf Consol 50 Todesopfer gefordert. Der Kettwiesel war im Hospital aufgewacht und hatte erfahren, daß sein bester Freund unter diesen Opfern gewesen war. Halbwegs genesen war er dann von einem zum anderen Tag einfach fort gegangen. Niemand wußte wohin. Vor ungefähr drei Jahren war er plötzlich wieder aufgetaucht. Krank vor Heimweh nach seinem Schalke. Aber sein Schalke, so wie er es verlassen hatte, gab es quasi nicht mehr. Es hatte sich in den anderthalb Jahrzehnten, in denen sich der Kettwiesel in der Welt herum getrieben hatte, unglaublich viel verändert. Veränderungen die erst in diesem Jahr darin gipfelten, daß das zuvor selbständige Amt Schalke mit Gelsenkirchen zu einer Großstadt vereint wurde.
"Datt is die größte Sauerei, datt die das gemacht haben.", pflegt der Kettwiesel sich immer aufzuregen, wenn man ihn darauf anspricht.
Willy's Vater hatte ihn nach seiner Rückkehr wieder mitgenommen auf Consol. Unten im Schacht hatte der Kettwiesel aber gleich am ersten Tag hyperventiliert und am zweiten wie ein Irrer getobt. Willy's Vater hatte schließlich bei Prczykowsky ein gutes Wort für den Kettwiesel eingelegt. Seitdem arbeitet er dort tagsüber als Bäckergehilfe, macht die Öfen sauber und dergleichen. Abends hilft er bei Dittmar in der Kegelbahn und hat dort auch einen Platz zum Schlafen.
Um Mitternacht, geht Willy an der Seite seines Vaters die Gewerkenstraße runter Richtung Schalker Markt. Sie biegen in die Schalker Straße ein, die parallell zur Kaiserstraße verläuft. Wo die Sechsundneunziger in ihren vornehmen Häusern wohnen. Am liebsten würde Willy deshalb stolz mit seinem Ball, den er wie einen kostbaren Schatz unter seinem Arm trägt, die Kaiserstraße entlang flanieren. Aber er folgt seinem Vater. Über die Grillostraße gehen sie zurück nach Hause.
Noch in seinen Träumen verfolgt ihn das Feuerwerk. Er und seine Mannschaftskameraden haben Haus Goor festlich geschmückt. Haben zwei Tore und Eckfahnen auf die Wiese gestellt. Am Horizont erscheint plötzlich ein Flugzeug vom Kettwiesel gesteuert, der ihm einen Ball, nein seinen Ball, zuwirft....
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"Am Goldn'en Hochzeitstage wurd' Omma fast verrückt Als Oppa still und heimlich zum Endspiel sich verdrückt...."
14. Juni 1969
Leise fällt die Wohnungstür ins Schloß. Und so leise wie es ihm möglich ist, geht er die Treppenstufen hinunter, seine Schuhe noch in der Hand. Die Treppe knarzt ein bisschen.
‚Lieber Gott, mach datt die olle Raab nich schon wach is.‘ betet er innerlich.
Um seine Rosemarie macht er sich weniger Sorgen. Die schläft tief und fest. Aber die Nachbarin ist jeden Morgen schon früh auf und steckt ihre Nase immer in alle möglichen Angelegenheiten. Und wenn sie ihn sieht, wird sie ihm freudestrahlend gratulieren. Aber darauf legt er überhaupt keinen Wert. Auf das ganze andere Tamtam auch nicht, mit Bürgermeister und dergleichen.
‚Die solln ma schön alleine feiern.‘, denkt er sich.
Ist der Bürgermeister überhaupt da? Oder ist der wohl auch in Frankfurt. Dann schicken die den zweiten oder den dritten. Oder irgendeinen, den se noch haben. Der kein Schalker is.
‚Wenn ich nochma heirate, dann sicher nich im Juni.‘
Inzwischen ist der betagte Herr im Erdgeschoß angekommen und hat schon die Haustürklinke in der Hand, da hört er hinter sich, aus Richtung Keller kommend, eine krächzende Stimme.
„Ach, Herr Pritschikowski!“
Da isse schon. Die olle Raab. Der Name ist bei dieser Frau Programm. Ständig läuft sie in einer ihrer Kittelschürzen rum und hat ein Tuch auf dem Kopf. Jetzt hält sie grad eine Kehrschaufel und einen kleinen Besen in ihren Händen. Sie muß ungefähr so alt sein wie er selber, vielleicht sogar ein bisschen jünger. Aber er hat sie nie danach gefragt. Denn erstens fragt man eine Dame nicht nach ihrem Alter. Auch nicht die olle Raab. Und zweitens hat es ihn gar nicht interessiert.
„Alles, alles Gute.“
„Jau, danke! Iss gut.“
Flehentlich hebt er den Kopf und blickt nach oben. Zu seiner Wohnung.
„Wieso hamse denn die Schuhe noch inner Hand?“
Er führt den Zeigefinger zum Mund und bewegt sich auf seine Nachbarin zu.
„Meine Frau schläft noch.“ flüstert er.
„Wollnse ihr sicher Blumen holen geh’n, woll? Ach, iss datt aber nett. Da wird se sich aber freuen.“
„Ja! Genau!“
Die Lautstärke der Nachbarin ist zwar schon etwas gedämpfter. Aber noch ist er nicht ganz zufrieden. Das gibt er ihr mittels Zeichensprache zu verstehen.
„Dann bis nachher.“, flüstert die Alte und bewegt sich in Richtung ihrer Wohnung im Erdgeschoß.
Tadeus Pritischikowski läßt sich mühsam auf die Treppe sinken und bindet sich die Schuhe zu.
„Soll ich ihnen helfen?“ Schon wieder die krächzende Stimme hinter ihm.
„Ne!“ winkt er ab.
‚Datt fehlte noch.‘
Endlich hört er hinter sich die Tür ins Schloß fallen. Er ist grade fertig mit Schuhe binden und richtet sich ebenso mühsam, am Treppengeländer festhaltend, wieder auf. Dann geht er hinaus auf die Uechtingstraße, hinunter zur Straßenbahn.
Seinen Schal hat er oben vergessen, fällt ihm an der Haltestelle gegenüber von Kuzorra’s Laden ein. Aber er kann nicht mehr zurück. Um diese Jahreszeit braucht er ja eigentlich auch keinen Schal. Aber er hätte ihn irgendwo in die Jackentasche gesteckt. Wenn Schalke nun verliert...
‚Langsam werd‘ ich doch tüddelich.‘
Er weiß gar nicht mehr wie lange das schon her ist. Vier, fünf Jahre bestimmt, seit Rosemarie ihm den selbstgestrickten Schal zu Weihnachten geschenkt hat. Marineblau nicht königsblau, aber sie hat sich das ja in all den Jahrzehnten nicht merken können und hat es gut gemeint. Jedenfalls hatten die Knappen gleich das erste Heimspiel danach gewonnen und das nächste, bei dem Tadeus den Schal nicht mitgenommen hatte, hatten sie verloren. Seitdem ist der Schal immer dabei. Früher, als Kind, hatte er es gehaßt, wenn seine Mutter ihm den Schal immer hinterher trug. Aber der war damals auch gelb gewesen und hatte furchtbar gekratzt.
Kurz ist er versucht, wieder zurück zu gehen. Denn heute ist ein besonders wichtiges Spiel für Schalke. Ein Pokalfinale. Erst einmal haben die Königsblauen ein Pokalfinale gewonnen und das ist über dreißig Jahre her. Danach sind sie immer wieder gescheitert. Fünf mal bis heute. Wenn sie nun heute wieder nicht...
Aber da kommt bereits die Straßenbahn. Es muß ohne den Schal gehen. Irgendwie müssen sie gegen die Seppls gewinnen. Schließlich will er nicht mit leeren Händen aus Frankfurt zurückkommen.
‚Die Gardinenpredigt wird so schon schlimm genuch.‘
Aus Richtung der Glückauf-Kampfbahn kommen ein paar Jugendliche gelaufen, die die Straßenbahn noch erreichen wollen. Der eine trägt eine riesengroße blau-weiße Fahne, der andere bläst in eine Tröte und dann rufen sie alle gemeinsam im Chor.
„LI-BU-DA ! LI-BU-DA!“
Und die Miene des Alten hellt sich auf....
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Die selbe beschwerliche Reise mit der Bahn wie vor acht Tagen.
Da hatten sie bei der Eintracht gespielt. 0:1 verloren. Am Saisonende ist das jetzt nur der 7. Platz. Zwar nicht schlecht, wenn man bedenkt, daß sie die Saison davor beinahe abgestiegen wären. Aber mit ein bisschen mehr Glück hätten sie jetzt auch Vizemeister werden können. Verrückte Bundesliga. Nürnberg, der Meister des Vorjahres ist dieses Mal abgestiegen. Einfach komplett verrückt.
Dieses Mal sind die Seppls Meister geworden. Zum zweiten Mal in ihrer Vereinsgeschichte.
‚Das erste Mal war...‘
Tadeus Pritschikowski erinnert sich nicht mehr so genau.
‚War das im Jahr als wir gegen die Fortuna spielten? Dieses legendäre Spiel. Oder das Jahr darauf?‘
So viele Jahre. So viele Spiele.
‚Ach ja! Natürlich! Wir waren doch im Halbfinale. Damals auch schon gegen die Eintracht. Irgendwann Ende Mai 1932. Also nicht im Jahr unserer Sperre. Alle haben wir damals schon mit einem Finale gegen Nürnberg spekuliert. Und dann sind die beiden Judenclubs ins Finale gekommen...‘
‚Die beiden Judenclubs. Mein Gott!‘
So hat man den FC Bayern München und Eintracht Frankfurt damals genannt. Und nicht nur die...
Der alte Mann will sich an die Zeit, die danach kam, gar nicht mehr erinnern. Er selbst ist Katholik. Wie es seine Eltern und seine Vorfahren auch schon waren. Gebürtige Polen. Keine protestantischen Masuren. Wie die Vorfahren von Szepan und Kuzorra.
„Gemmich' wech mittie Polacken.“, soll der Clemens einmal gesagt haben. Es versetzt dem alten Tadeus noch heute einen Stich ins Herz. Er kann das gar nicht glauben. Heute sieht er ihn natürlich jeden Tag, wenn er in seinem Zigarrenladen seine Zeitung holt oder Lotto spielt und sie sind freundlich miteinander. Wobei Clemens ganz allgemein bisweilen einer knorrigen Eiche gleicht im Umgang. Tadeus wohnt gewissermassen gleich über die Straße. Das Stück die Uechtingstraße rein, die an die Kurt-Schumacher-Straße grenzt, wo Kuzorra seinen Laden hat, die früher die Kaiserstraße war und danach eine Zeitlang den Namen des „Gröfaz“ trug, des „Größten Feldherrn aller Zeiten“.
Damals, nach dem Januar 1933, hat er kein einziges der glorreichen Spiele des Schwägerpaars gesehen. Kein einziges. Nicht das 2:1 gegen Nürnberg, nicht das 6:4 gegen Stuttgart, nicht das 9:0 gegen Admira Wien. Kein einziges. Er war in seinem vierzehnten Ehejahr mit Rosemarie und den Kindern nach Friedenshütte gezogen. In die für ihn völlig fremde Heimat seiner Vorfahren. Und er hatte seinen Namen wieder so geschrieben, wie er bis zum Ableben seines Vaters an dessen Bäckerladen in der Hauergasse gestanden hatte, Prczykowsky.
Und wenn Schalke in Berlin spielte oder sonstwo in einem Finale, hatte er mit zittrigen Händen die Knöpfe an seinem Rundfunk-Empfänger gedreht und geweint. Bitterlich geweint....
[ Editiert von nuvoletta am 16.08.10 14:28 ]
Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT - FC SCHALKE 04
Die Rufe und laute Rockmusik wecken den Alten. Er blickt auf seine Taschenuhr, die schon sein Großvater an der Kette getragen hat, ein altes Familienerbstück also, und stellt fest, daß er ungefähr eine Stunde geschlafen hat. Der Zug bewegt sich gerade irgendwo auf freiem Feld. Noch etwa zweieinhalb Stunden bis Frankfurt.
Von draußen scheint hell die Sonne in sein Abteil. Es wird heute sicher ein heißer Tag. Tadeus steht auf und zieht seine Jacke aus und hängt sie an den Haken. Das Fenster zu öffnen, traut er sich nicht. Bei dem Fahrtwind könnte er sich erkälten. In seinem Alter ist mit einer Lungenentzündung schließlich nicht zu spassen.
In einem der Abteile nebenan sitzen die jugendlichen Schalker und haben ihr Radio laut aufgedreht. Ihre große blau-weiße Fahne hat wohl keinen Platz im Abteil. Sie liegt zusammengerollt der Länge nach auf dem Boden des Ganges.
Der Alte ist versucht nach nebenan zu gehen, um die Jugendlichen zu bitten, das Radio etwas leiser zu machen. Da hört er schon die Stimme des Schaffners. Und setzt sich wieder.
“Fahrkarten, bitte. Die Fahrkarten. Wos is denn des hier für ä Lärm.”
Der Schaffner spricht hessischen Dialekt. Tadeus fällt ein, daß er die Fahrkarte noch in seiner Jacke hat und er steht wieder auf. Beim Herausziehen der Brieftasche fällt ihm unbemerkt ein Stück gelb-roter Stoff auf den Boden.
“Und was is des hier für a Saustall. Du amol die Füss nunner, junger Mann. Bist doch ned dahem.”
“Geht klar, Chef.”
Die Musik wird leiser gedreht. Tadeus hört das Klicken der Zwickzange. Dann kommt der Schaffner zu seinem Abteil. Er sieht aus, wie Tadeus ihn sich schon von der Stimme her vorgestellt hat. Er hat Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Joseph Offenbach, der in der Fernsehserie “Die Unverbesserlichen” den Familienvater “Kurt Scholz” spielt. Vor drei, vier Wochen war erst wieder eine neue Folge ausgestrahlt worden.
Einer der Jugendlichen intoniert nebenan das Vereinslied und die anderen stimmen mit ein.
“Blau und Weiß, wie lieb ich Dich...”
“Einen Radau machen die Brüder...”, meint der Schaffner als Tadeus ihm seine Fahrkarte gibt.
“Blau und Weiß verlass mich nicht...”
“Dabei gewinne die bleeden Schalker doch heut sowieso ned. Der Müller macht minnestens zwei Tore. Minnestens.” Wieder das Klicken der Zwickzange.
‚Arschloch!‘, denkt Tadeus, während nebenan gerade “alle jungen und schönen Mädchen blau und weiß spazieren gehen.”
“Sie hawwe da was verlore.”. Der Schaffner bückt sich und gibt Tadeus das Stück Stoff und die Fahrkarte.
“Hier, Ihr Taschentuch. Die Schalker hawwe doch kan un‘ mit dem Libbudda is doch a nix mehr los”
Nebenan wird der Prophet Mohamed besungen und Tadeus säubert das Stück Stoff vom Staub des Bodens und von den Berührungen des Ungläubigen.
“Mer hawwes ja letzte Woch gesche die Eintracht wieder gsehn.”
In Tadeus staut sich Groll auf. Am liebsten würde er...
Aber in seiner Jugend hat man ihm tiefen Respekt vor Uniformen beigebracht. Das war seinerzeit so. Dieser Respekt war so tief im Volk verwurzelt, daß ein Schustergeselle sich eine Hauptmannsuniform anzog, um sich im Rathaus Köpenick einen Reisepass zu ergaunern. Das ganze Deutsche Reich hatte über die “Köpenickiade” gelacht. Sogar seine Majestät, der Kaiser, soll sich der Sage nach herzhaft amüsiert haben.
‚Damals bin ich zehn oder elf gewesen.‘ denkt der Alte, der vor seinem geistigen Auge Heinz Rühmann in der Rolle des Schusters Wilhelm Voigt sieht.
Er fällt in den Gesang der Jugendlichen ein.
“Tausend Feuer in der Nacht haben uns das große Glück gebracht.”
Der Schaffner tippt sich an die Stirn und entfernt sich. Tadeus folgt ihm auf den Gang und singt weiter.
“Tausend Freunde, die zusammen stehen, zusammen stehen, dann wird der FC Schalke niemals untergehen.”
Der Gesang wird im anderen Abteil lauter und Tadeus singt den selben Text noch einmal mit voller Inbrunst.
“Tausend Freunde, die zusammen stehen, zusammen stehen, dann wird der FC Schaaalke niiiiemals untergehen.”
Dann nickt er freundlich lächelnd den Jugendlichen zu, die ihm mit ihren Flaschen und Dosen zuprosten und geht zufrieden zurück in sein Abteil.
Sein Blick fällt wieder auf das gelb-rote Stück Stoff in seiner Hand. Er schaut auf die große blau-weiße Fahne auf dem Gang und wieder auf das Stück Stoff.
‚65 Jahre iss datt Dingen alt. So alt wie unserer Verein.‘
All die Jahrzehnte hatte er es bewahrt, das gelb-rote Fähnlein, das er als kleiner Junge auf der Goorwiese geschwenkt hatte. Als die Westfalia aus Schalke ihr erstes Spiel machte....
Er hatte sie belauscht. Damals am 4. Mai 1904, an einem Mittwoch, als die Jungens im Elternhaus vom Heinrich Kullmann ihre Pläne schmiedeten. In der Hauergasse, unweit von der Bäckerei seines Vaters.
'Endlich gründet der Willy seinen Verein.', hatte er sich gefreut. Und er hätte Purzelbäume schlagen können vor lauter Freude. Wenn er nicht so unsportlich gewesen wäre. Das war immer das Problem gewesen. Nicht nur, daß er für die anderen viel zu jung war. Nein, er war auch noch viel zu dick für sein Alter und für seine Körpergröße. Das einzige, verhätschelte und gemästete Kind eines Bäckermeisters. Der wunderbare Kuchen und Torten backen konnte.
Seine Mutter hatte zunächst keine weiteren Kinder bekommen. Erst mit bald sieben Jahren bekam der kleine Taddel ein Schwesterchen. Über eins ihrer Spielzeuge, das zuvor seins war, war er an jenem Ersten Weihnachtsfeiertag 1903 gestolpert. Aber das Schwesterchen war immer krank gewesen und oft nur in seinem Bettchen gelegen. Mit zwei Jahren oder so war es dann gestorben. Und Taddel blieb das einzige Kind.
Die beiden Weltkriege haben Tadeus so rank und schlank gemacht, wie er es heute ist. Man sollte annehmen, daß ein Weltkrieg für ein Menschenleben genug wäre. Aber er hat zwei erlebt. Und überlebt. Wie, das kann er heute selbst nicht genau sagen.
Willy hatte auf die Farben gelb und rot bestanden. Unbedingt gelb und rot.
"Wegen die Käsköppe." wie es einer der Anderen ironisch ausgedrückt hatte.
"Die Farben hat sonst keiner weit und breit.", war Willy's letztlich überzeugendes Argument.
Also, bitteschön, dann eben gelb und rot. Trikots konnten sie sich zuerst sowieso keine anschaffen. Nur für das kleine Fähnchen hatte der Stoff gereicht.
Das mit dem Namen war auch so eine Sache. "Schalke" war klar wie Kloßbrühe. "Gelsenkirchen", dazu gehörte Schalke ungefähr seit einem Jahr, blieb aussen vor. Stand überhaupt nie wirklich zur Debatte.
Irgendjemand hatte "Sportclub Glückauf Schalke" vorgeschlagen. Den Bergmannsgruß hatte noch kein ihnen bekannter Fussballverein in seinem Namen. In Höntrop gab es nur einen Männergesangsverein, der "Glückauf 1876" oder so ähnlich hieß. Insofern wäre dieser Name mindestens genauso originell gewesen wie die Farben. Aber weil Willy und einige Andere keine Bergleute waren, sondern Lehrlinge bei Küppersbusch, hatte Willy mit diesem Einwand den Namen abgelehnt. Es sollte "etwas Umfassenderes" sein.
Schließlich hatten sie sich auf "Sportverein Westfalia Schalke" geeinigt. Willy war der Vorstand, Heinrich der Kassier. So wie es heute immer noch wieder gerne erzählt oder niedergeschrieben wird.
[ Editiert von nuvoletta am 15.08.10 8:33 ]
[ Editiert von nuvoletta am 15.08.10 8:39 ]
Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT - FC SCHALKE 04
„Am 14. Juni 1919 hab ich geheiratet, un am andern Tach bin ich aufn Platz gegangen. Da ham wa gegen Kaddernberch gespielt. Freundschaftsspiel. Knapp gewonnen. Ich mein, Eins Null. Datt war so ungefähr als wa grade wieder mit dem Turnverein fusioniert hatten. Da hießen wa noch lange nich Schalke 04. Sondern eben Turn- und Sportverein Schalke 77“
Interessiert hören die Jungen dem Alten zu. Er hat ihnen vorhin erzählt, daß heute eigentlich sein Fünfzigster Hochzeitstag ist und sie hatten sich köstlich amüsiert. Der Dicke, der so gejapst hatte, als sie die Straßenbahn an der Uechtingstraße gerade noch erreichten, war in sein Abteil gekommen und hatte Tadeus gefragt, ob er auch ein Bier wolle.
‚Warum nicht.‘
Eins konnte ja nicht schaden und so war er der Einladung gefolgt. Jetzt sitzt er also in dem anderen Abteil mit den Jungen zusammen. Sein vorheriges Abteil wurde inzwischen von einer Familie mit zwei Kindern besetzt, die auf dem Gang mit einem Ball herumtollen. Hin und wieder, wenn sie es zu bunt treiben, werden sie von den Eltern ermahnt.
Der Dicke heißt eigentlich Horst, aber die Anderen sagen alle Hoss für ihn.
„Ham Sie auch mitgespielt?“ fragt der Dicke den Alten.
„Ne, für die Erste tat datt bei mir nie reichen. Inner Jugend hab ich ma ‚n paar Spiele gemacht. Aber da tat ich mir damals mit Luft holen auch so schwer wie Du... wie Sie.“
„Sie können ruhig Du für mich sagen.“
Tadeus überlegt kurz.
‚Könnten zwar eigentlich alle meine Enkel sein, aber warum nich unter Schalkern.‘
„Ihr könnt auch Du für mich sagen. Ich heiße Tadeus.“ Er hält Hoss seine Bierflasche hin und sie stossen miteinander an.
„Fein!“, sagt Hoss.
„Wie ich heisse, hasse ja schon gehört. Neben Dir sitzt der Manni und hier neben mir sitzen der Ötte und der Hennes. Die zwei sind Brüder."
"Zwillinge sogar.", ergänzt der, der neben Hoss sitzt, "Sieht man gleich, ne.“
‚Es gibt Brüder, die sich ähnlicher sehen.‘, denkt Tadeus.
‚Vielleicht, wenn man sich den Oberlippenbart von dem Einen wegdenkt. Und die langen Haare vom Andern‘
„Wir sagen auch manchma Sonny und Cher für die Beiden. Ötte und Hennes ham ihre Eltern se getauft, weil se beim Tibulsky unner der Theke gezeucht wurdn.“
Der neben ihm sitzende, der mit dem Oberlippenbart, versetzt Hoss im Scherz mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen. Wobei ihm der Stoß vielleicht ein wenig fester gerät, als beabsichtigt.
„Da draußen aufm Gang beim Rauchen steht unser Jimmy, unser Eisenbieger.“, erzählt Hoss weiter, während er seine Hände auf die Rippen preßt.
Die Type, den „Eisenbieger“, hat Tadeus irgendwann bestimmt schon mal wo gesehen. Vermutlich in der Glückauf-Kampfbahn oder bei Ötte Tibulsky in der Gaststätte. So Jemand fällt jedenfalls auf. An den zwei Metern Körpergröße fehlt ihm wohl nicht viel. Wenn überhaupt. Überaus kräftige Statur. Dichter Vollbart. Am Kragen und an den Ärmeln ragen seine Tätowierungen unter dem T-Shirt hervor. Seine Struwwelpeterfrisur bändigt er mit einem Stirnband. Um seinen Hals trägt er sowas wie ein Amulett.
‚Der Kettwiesel war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus.‘, denkt Tadeus. ;Heutzutage würde der gar nicht mehr auffallen. Damals ham ihn die meisten nich so ganz für voll genommen.‘
Er überlegt sich, ob er ihnen die traurige Geschichte vom Kettwiesel erzählen soll. Aber da fangen die Jungen auf einmal wieder an zu singen. Oder auch zu grölen. Je nachdem, wie gut sie bei Stimme sind. Tadeus hat das Radio eigentlich schon längst vergessen, das die ganze Zeit weiter vor sich hingedudelt hat.
Jimmy und einer der beiden Brüder, wieder der mit dem Oberlippenbart, schaffen es, im Takt der Musik zu bleiben. Der mit den langen Haaren auch noch so einigermaßen. Die beiden Anderen, naja, nicht so ganz. Ist aber vielleicht auch nicht so ganz einfach. Vor allem, wenn man schon etwas angeheitert ist.
„Hey Stan. Watt machse denn mit die Pille am Fuß?“
Und dann lachen sie wie verrückt.
„Hey hey Stan. Wat machse denn mit die Pille am Fuß?“
Wieder lachen sie.
Tadeus errät, daß der Text irgendwas mit „Stan“ Libuda zu tun haben muß.
„Datt is Jimmy Hendrix, ‚Hey Joe‘.“, klärt Hoss ihn auf, als der sich einigermaßen beruhigt hat.
„Wir ham uns da neulich nen neuen Text für einfallen lassen, als wa unterwegs waren.“
Diesmal ist es zur Abwechslung mal Manni, der einen Kommentar abgibt.
Gerade setzt der Refrain wieder ein und Hoss singt auf Englisch mit. Die Anderen wieder den eigenen deutschen Text.
„Hey, Joe, what you’re gonna do with that gun in your hand.“
„Hey, Stan. Watt machse denn mit die Pille am Fuß.“
Tadeus hat nach dem Krieg ein paar Brocken Englisch gelernt. Daran kam man ja damals quasi fast nicht vorbei. Aber er hat schon längst wieder alles vergessen. „Gan“ kommt ihm bekannt vor, hat er vielleicht schon mal gehört, und „Hend“ heißt vermutlich „Hand“. Und Stan wird also nicht „Schtann“ ausgesprochen, sondern „Stän“.
‚Man lernt immer wieder watt dazu.‘
Früher hätte es vielleicht ein paar Bier mehr für Tadeus gebraucht, um diesen Text sinnig zu finden. Heute, am Tag seiner Goldenen Hochzeit, genügt eins. Deshalb singt er mit.
„Hey hey Stan. Wat machse denn mit die Pille am Fuß?“
„Bist aber auch ganz kräftig bei Stimme.“, lobt ihn Hoss. „Iss mir vorhin schon aufgefallen.“
„Hab ich von Vaddern.“, entgegnet Tadeus und lehrt seine Flasche, die er anschließend in den Bierkasten rechts von ihm stellt. Hoss deutet ihm, daß er sich ruhig noch eine zweite nehmen könne. Tadeus wehrt ab und deutet auf seinen Magen.
Sein Vater war von ähnlicher Statur gewesen wie Hoss. Er hatte immer die Brote mit diesem riesengroßen Schuber, oder wie man das nannte, aus dem Ofen geholt und dabei Opernarien gesungen. Wie Caruso. Sein Traum war es immer gewesen, mal eine Aufführung an einem der berühmten Festspielhäuser zu sehen. Von der ‚Scala‘ in Mailand hatte er besonders geschwärmt. Aber ein Bäcker polnischer Abstammung im Ruhrgebiet buk in dieser Hinsicht natürlich kleine Brötchen um die Jahrhundertwende.
„Sehr verehrte Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Sie haben dort Anschluß an...“
Die freundliche Stimme des Zugführers reißt Tadeus aus seinen Erinnerungen. Die Anderen suchen ihre Sachen zusammen. Stellen ihre Flaschen in den Bierkasten, den Hoss offenbar tragen soll. Jimmy hebt die blau-weiße Fahne vom Boden auf, die er aber nicht gerade aufrichten kann, weil sie an der Decke anstößt.
Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT - FC SCHALKE 04
„Nächsten Monat schon zum Mond?“ titelt eine bundesweit populäre Boulevard-Zeitung und Tadeus muß wieder an den Weihnachtstag 1903 denken, als er mit ausgebreiteten Armen zuhause durchs Wohnzimmer gelaufen war.
‚Tausend Meter weit.‘ Tadeus muß schmunzeln, wenn er sich an sein kindliches Gemüt erinnert.
Aber der Willy hatte ja damals ungefähr recht gehabt mit seiner Behauptung, „30 oder 35 Meter“.‘
‚Mein Gott, der Willy. Wenn er datt heute noch alle erleben könnte, was aus unserem Verein geworden is‘
Willy Gies verstarb am 15. September 1931. Im Alter von nur 41 Jahren. Zwei Tage zuvor hatte der FC Schalke 04 in der 1. Ruhrbezirksklasse, damals die höchste Liga, um Punkte gespielt. Gegen Castrop 02 4:0 gewonnen. Am 1. Juni des selben Jahres war die Sperre abgelaufen, die wegen unzulässiger Zahlungen von der Spruchkammer des Westdeutschen Spielverbandes gegen die Schalker Spieler verhängt worden war. Und es war dieses berühmte Foto vom legendären Spiel gegen Fortuna Düsseldorf entstanden. Über 70 000 Zuschauer sollen es gewesen sein. Jedenfalls war die Glückauf-Kampfbahn hoffnungslos überfüllt und Kinder hatten sogar das Tornetz in Beschlag genommen.
Tadeus hat einen Abzug dieser Fotografie in eines seiner Sammelalben geklebt. Die er zuhause hütet wie seinen Augapfel. Zeitungsausschnitte mit Spielberichten. Einen Brief, den der junge Willy damals an Tadeus' Cousine Giulietta geschrieben hatte. Eine Feldpostkarte aus dem Ersten Weltkrieg, die Willy ihm nach seiner Verwundung aus dem Lazarett geschickt hatte. Und dergleichen mehr. Neben dem Foto von der Glückauf-Kampfbahn klebt das Foto vom Crystal Palace in London, vom englischen Pokalfinale 1901, das Willy damals so beeindruckt hatte....
[ Editiert von nuvoletta am 15.08.10 8:58 ]
Einst die fixe Idee eines halbwüchsigen Schlosserlehrlings, heute DER GEILSTE CLUB DER WELT - FC SCHALKE 04